DEN ISLAM VERSTEHEN LERNEN


In vielen westlichen Staaten, vor allem in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada und den USA, stellen die Muslime inzwischen eine der größten Minderheiten des Landes. Daher kann der Islam heute auch nicht mehr - wie früher oft geschehen - bei Fragen, die das Spannungsfeld zwischen Religion und Gesellschaft betreffen, übergangen und ignoriert werden. Der Islam ist nicht länger eine exotische Eigentümlichkeit ferner Kulturen, sondern gerade auch in Deutschland ein nunmehr fest verwurzeltes Element der religiösen Landschaft. Alle gläubigen Menschen und erst recht die offiziellen Vertreter der Kirchen (oder mit anderen Worten: alle Menschen, die sicherstellen möchten, dass Gott in unserer Gesellschaft und Kultur nicht länger zu kurz kommt) sollten mit dem Islam und ihren muslimischen Mitbürgern zusammenarbeiten. Sie verdienen ihre Beachtung, ihre Aufmerksamkeit und ihren Respekt.


Leider hat der Islam nach wie vor ein sehr schlechtes Image. Vielfach wird er als eine Bedrohung dargestellt oder auch zu einer Gefahr hochstilisiert (Stichwort: Die Muslime greifen nach der Weltherrschaft). Postmoderne Intellektuelle ärgern sich nicht selten über die Tatsache, dass da eine mächtige und einflussreiche Religion existiert, die ,unaufgeklärte' Werte zu vertreten scheint. (Stichworte: Der Islam ist intolerant, er unterdrückt die Frauen usw.). Solche Vorwürfe schaffen eine Atmosphäre, die Fanatismus und Gewalt Tür und Tor öffnet.

Wir als gläubige Christen tragen eine Mitverantwortung dafür, welche Gefühle den Muslimen in unserer Gesellschaft entgegengebracht werden. Wir können und sollten das oft negative Islambild unserer Mitbürger korrigieren. Wir stehen vor der Wahl: Entweder schüren wir die Feuer der Gegensätze und geben dem dominierenden gesellschaftlichen Trend, den Islam zu dämonisieren, neue Nahrung; oder aber wir treten diese Feuer aus und tragen dazu bei, dass jedes Mitglied der Gesellschaft die Chance erhält, sich objektiv und aus erster Hand über dieses ,Andere' in ihrer Mitte zu informieren und es vielleicht sogar schätzen zu lernen. Die meisten von uns werden sich für diese zweite Option entscheiden, davon bin ich überzeugt. Deshalb möchte ich im Folgenden einige praktische Vorschläge unterbreiten, wie sich diese Aufgabe bewältigen lässt:

Falsche Vorstellungen entkräften!
Zerrbilder und falsche Vorstellungen über den Islam beruhen oft auf der Annahme, diese Religion sei monolithisch und die muslimischen Gemeinschaften seien homogen. Beide Annahmen sind falsch. Genauso wie es viele unterschiedliche Formen des Christentums gibt, existieren auch viele Islam-Versionen. Und die weitaus meisten von ihnen haben mit dem so genannten Islamismus nichts, aber auch gar nichts zu tun. Denn der Islamismus ist eine militante, extremistische Randerscheinung unter den Muslimen. Er gibt vor, sich auf traditionelle Werte zu berufen. In Wirklichkeit jedoch verletzt er rücksichtslos unveränderliche islamische Prinzipien wie Toleranz, Nachsicht, Gastfreundschaft und Großzügigkeit. Wer sich bemüht, solche falschen Vorstellungen zu entkräften, darf sich sicher sein, dass er nicht allein steht. Auf christlicher Seite gibt es ganz gewiss viele Menschen, denen sehr daran liegt, dass der Islam im richtigen Licht dargestellt wird.

Warum tendieren wir oft selbst dazu, Zerrbilder vom Islam zu entwerfen?
Viele Menschen in der christlichen Welt treten jeder Form von Tradition in der Gesellschaft entgegen und möchten die Erinnerung an deren ,einengende' Strukturen am liebsten völlig auslöschen. Wenn der Islam sich - unerschrocken und ohne falsche Scham - selbst als eine traditionelle Religion bezeichnet, d.h., als eine Religion, die auf den Strukturen und Werten eines traditionellen kulturellen Systems basiert, zucken all jene, die von der vorherrschenden säkularen Kultur geprägt sind, unweigerlich zusammen. Denn eine solche Eigendarstellung erinnert sie an das, was unsere eigenen Gemeinschaften einst (und in manchen Erdregionen auch heute noch) als Wahrheit verkündeten, und an das, was einst (und in manchen Erdregionen auch heute noch) eine Verpflichtung war. Doch ich denke, dass viele inzwischen ganz allmählich einsehen, dass die Demontage der traditionellen Form des religiösen Lebens unseren religiösen Gemeinschaften in vielerlei Hinsicht geschadet hat. Die Vitalität und das Selbstvertrauen des Islams erinnern sie an das, was sie selbst verloren haben. Kurz: Das immer größere Selbstvertrauen der Muslime und die Wiederbelebung auch der Praxis des Islams führen den Menschen die Krise der christlichen Identität und den stetigen Niedergang der christlichen Glaubenspraxis in den säkularisierten westlichen Gesellschaften ganz besonders deutlich vor Augen. Dieser neuen Stärke des Islams begegnet man mit jedoch Skepsis; denn sie verdeutlicht so manchem, wo die eigene Schwäche liegt und wie groß sie ist.


Die äußeren Ausdrucksformen des Glaubens, die für das islamische Leben so kennzeichnend sind, wertschätzen!
In dieser Hinsicht können wir Christen vom Islam viel lernen. Vor einigen Jahren verwies sogar der inzwischen verstorbene Papst Johannes Paul II. auf das Ramadanfasten der Muslime und forderte die Christenheit auf, deren Vorbild an Hingabe und Disziplin nachzueifern (was jedoch nicht geschieht). Praktizierende Muslime beten außerdem auch mindestens fünfmal täglich. Wie viele Christen können von sich behaupten, sich regelmäßig zur Seite zu setzen und ein Gebet zu verrichten? Muslime sind von Seiten ihrer Religion dazu verpflichtet zu spenden - die Zakat (eine Sozialabgabe) zu entrichten. Und zwar nicht nur, wenn sie das Gefühl haben, dies tun zu müssen, sondern im Rahmen ihrer religiösen Praxis zu festgelegten Zeiten und in ebenso festgelegter Höhe. Jahr für Jahr zahlen sie einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens an die Gesellschaft zurück und tragen so dazu bei, das Wohlstandsgefälle zwischen Reich und Arm zu überbrücken. Ein fester Bestandteil des islamischen Lebens ist weiterhin die Pilgerfahrt, eine Erfahrung, deren Bedeutung für das moderne christliche Leben zu Unrecht völlig verkannt wird. Schließlich verlangt der Islam von den Muslimen auch körperliche Akte der Anbetung wie das Sich-Niederwerfen und das Sich-Verbeugen vor Gott - Gesten und Gebärden, die dem ,kultivierten und aufgeklärten' modernen Christen archaisch und altmodisch erscheinen. Wir Christen reden zwar so oft von Fleischwerdung und von der Verkörperung der Werte Christi, gleichzeitig jedoch gelingt es uns immer weniger, unsere religiösen Gefühle nach außen hin zum Ausdruck zu bringen. Wir stellen Denken und Emotion über Körperlichkeit und erklären die Religion kurzerhand zu einer bloßen ,spirituellen' Empfindung, die vom Körper getrennt ist. Dieser Trend ist meiner Meinung nach sehr bedauerlich. Der Islam erinnert uns an unser Bedürfnis auch nach körperlicher religiöser Praxis.

Das Leben für die Gemeinschaft betonen und die Verantwortung des Individuums ihr gegenüber herausstellen!
Während das Christentum in der westlichen Welt langsam aber sicher den Charakter einer zusammengehörigen Glaubensgemeinschaft verliert und die christliche Spiritualität auf dem Rückzug ins Private ist, tritt der Islam auf überzeugende Art und Weise den Beweis an, wie stark eine intakte Gemeinschaft sein kann. Viele Muslime haben, egal wo sie sich gerade befinden, das Gefühl, einer weltumspannenden Gemeinschaft anzugehören. Die Umma, die Gemeinschaft der Muslime, prägt die Identität ihrer Individuen und hat ihre ganze Loyalität. In einer Kultur hingegen, in der Bindungen an religiöse Gemeinschaften eine Seltenheit sind und persönliche Verantwortung (ob einer bestimmten religiösen Tradition oder irgendeiner anderen ,Autorität' gegenüber) gewissermaßen als Verstöße gegen die Rechte des Individuums betrachtet werden, mag die Betonung der Gemeinschaft durch den Islam als antiquiert gelten. Doch ich denke, auch wir Christen wären gut beraten, wenn wir unsere Gemeinschaftsstrukturen neu beleben würden; selbst wenn das bedeuten würde, neue Grenzen zwischen uns und ,der Welt' zu ziehen - Grenzen, die im Zuge der Säkularisierung verwischt wurden. Wenn wir unsere Definition religiöser Gemeinschaften überdenken und die dynamischen Kräfte des Lebens in diesen Gemeinschaften in Zukunft nutzen wollen, dann können wir von den Muslimen viel lernen.

Vom Dialog mit dem Islam profitieren - nicht nur dadurch, dass wir die islamische Tradition wertschätzen, sondern indem wir uns auch auf jene Prinzipien besinnen, die unsere eigene Religion auszeichnen!
Eines sollte man sich bewusst machen: Obwohl es mehr als genug Berührungspunkte gibt, tut sich zwischen Islam und Christentum eine tiefe theologische Kluft auf. In vielen Fällen als Reaktion auf eine verfälschte Präsentation der christlichen Lehre, hat auch der Islam eine eigene dogmatische Lehre entwickelt. Diese stellt uns vor die Herausforderung, gerade diejenigen Punkte der christlichen Theologie immer wieder neu zu hinterfragen, die uns ganz offensichtlich von den Muslimen trennen. Dies gilt vor allem für das Prinzip der Dreieinigkeit und den Rang Jesu als Sohn Gottes. Wir müssen einfach neue und nachvollziehbarere Wege finden, diese Glaubenssätze zu artikulieren. Wenn es uns gelingt, dass wir uns auf diejenigen zentralen Glaubensprinzipien konzentrieren, die für unser Gottes- und Weltbild entscheidend sind, werden wir unseren Glauben in der Zukunft besser darstellen und erklären können - sowohl den Muslimen als auch jenen, die heute vielleicht nur noch dem Namen nach Christen sind. Ein bloßes Wiederholen traditioneller Formeln reicht jedenfalls normalerweise nicht aus, um unter den Muslimen (und auch unter jenen Christen) für mehr Verständnis für das Christentum zu werben.

Persönlichen Kontakt mit muslimischen Gemeinden und einzelnen Muslimen aufnehmen!
Menschen, die man kennt, verspottet und veralbert man weniger schnell, als Menschen, zu denen man Distanz hält. Warum also nicht beim islamischen Zentrum im eigenen Stadtviertel anrufen oder sich auf dessen Mailverteiler setzen lassen? Solche Zentren führen auch oft Veranstaltungen für die Öffentlichkeit durch. Dort hat man die Chance, persönlich mit den Mitgliedern der Gemeinden zu sprechen und sich mit ihnen auszutauschen. Vielleicht lassen sich ja auch gegenseitige Besuche von Delegationen in Moschee und Kirche organisieren. Eine schöne Gelegenheit für gemeinsame Projekte von kirchlichen und islamischen Gemeinden bieten soziale Aktivitäten. Aber daneben existieren natürlich unendlich viele weitere Felder, auf denen man sich näher kommen kann.

Fazit
Viele Menschen, die sich zum ersten Mal mit Gläubigen anderer Religionen treffen (von einem interreligiösen Dialog möchte ich hier noch gar nicht einmal sprechen), sind zunächst einmal froh, mit realen Menschen zusammenzukommen. Sie sind es gewohnt, von den Medien bestimmte Bilder vorgesetzt zu bekommen und diese als Realitäten akzeptieren zu müssen. So kommt es, dass nicht wenige Christen Muslime geradezu verabscheuen. Sie halten sie (und auch die islamische Kultur) ganz einfach für minderwertig und nehmen sie noch nicht einmal als Menschen wahr. Der persönliche Kontakt jedoch versetzt sie in die Lage, ihre falschen und oberflächlichen Muslim- und Islambilder zu korrigieren. Das Gleiche gilt natürlich auch für viele Muslime, die das Christentum und die modernen Gesellschaften des Westens als etwas Abstraktes betrachten, das ihnen feindlich gesonnen ist und das es zu bekämpfen gilt. Persönliche Begegnungen helfen uns also einerseits, das Schöne in anderen Religionen zu entdecken, und andererseits, auch die wesentlichen Punkte in der eigenen Religion besser zu verstehen. So ermöglichen sie uns nicht nur, das ,Andere' in unserer Mitte anzunehmen, sondern auch unsere eigene Identität zu finden
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